1977

Hallo Bluebloggs,

1977, was für ein Jahr! Deutschland leidet unter dem Terror der RAF, welche unter anderem Arbeitgeberpräsident Hans Schleyer und Generalbundesanwalt Siegfried Buback ermorden. Man gewöhnt sich an Polizisten mit Maschinenpistolen, Fahrzeugkontrollen und verdeckte Schleierfahndung. Die Schleiereule wird das Tier des Jahres und aus England schwappt die erste Punkwelle rüber. Die Sex Pistols und die "unmöglichen" Punker bestimmen die erregten Diskussionen in den Mittagspausen, als Kontrast laufen Kraftwerk und das Alan Parsons Projekt zur Höchstform auf. Die DDR kämpft weiterhin um internationale Anerkennung und in Mogadischi befreit das deutsche Spezialkommando GSG 9 Geiseln aus den Händen von palästinensischen Terroristen. Der FC Liverpool gewinnt gegen Borussia Mönchengladbach mit 3:1 im Europapokal der Landesmeister und der VfB Stuttgart spielt in der zweiten Liga.

Das Stadion hieß noch schlichtweg Neckarstadion. In der runden  Betonschüssel standen die Zuschauer noch im Freien, mit Ausnahme des halben A-Blocks. Saß man im Unterrang der Untertürkheimer Kurve konnte man gegenüber noch die hohen Pappeln über den Rand der Cannstatter Kurve rausragen sehen. Die Verpflegungskioske boten ausschließlich die Stadionwurst an und standen im Freien. Das Vereinsheim stand noch fast unter der Schnellstraßenunterführung der B14, ein Teeniestar mit dem Namen Hansi Müller verzückte die weiblichen Fans und im Team wurde noch in der schwäbischen Landessprache "gebruddelt". Es waren andere, ganz andere Zeiten.

Die zweite Liga war sogar noch zweigeteilt, in 2. Liga Süd und Nord. Natürlich spielte man im wilden Süden, welcher beim KSV Baunatal begann. Baunatal? Tja, da gehts schon los. 1964 fusionierten mehrere Clubs am Rande von Kassel und man kickte damals in dieser Liga, zu Spielen gegen große Gegner zog man noch ins viel größere Auestadion von Kassel. Stuttgart gewann mit 0:5, Zeitzeuge RaMü war dabei. Die östliche Flanke bildeten hierbei die Spvgg. Bayreuth, Bayern Hof und Jahn Regensburg. Speziell Bayern Hof war toll. Umsteigen in Nürnberg und dann mit einer Bimmelbahn immer weiter in Richtung DDR-Grenze. Von hier aus waren es noch zwölf Kilometer bis zu den Sperranlagen des "Arbeiter- und Bauernparadieses". Das hatte was!

Im Westen der zweiten Liga Süd gab es ebenfalls eine gewisse Massierung. Wer kennt von den Jungspunden heute noch Röchling Völklingen oder den FK Pirmasens? Röchling war der Name des Hauptsponsors, einem gigantischen Stahlwerk im Saarland. Man sieht, der Kommerz ist nicht ganz so neu und überraschend. Alles schon mal da gewesen. Völklingen spielt heute Oberliga und Pirmasens im neuen Stadion Schusterhöhe, immerhin noch Regionalliga. Wesentlich bekannter sind da noch die Spvgg. Eintracht Trier und der FC Homburg. Homburg war sogar zwischenzeitlich mehrere Jahre Bundesligist und brachte dem VfB die bislang letzte Niederlage in der zweiten Liga bei. Die Höhepunkte waren die beiden "echten" Derbys gegen die Blauen von der Waldau. Richtig geknallt hat es dann bei den Kickers Offenbach und vor allen bei den "Löwen" von 1860 München. Dieses 0:0 in München vor 72.000 im alten Olympiastadion galt für mehrere Jahrzehnte als Zuschauerrekord der zweiten Liga. Auch gescheppert hat es auf dem Bieberer Berg der Offenbacher Kickers. Ausschreitungen vor, während und vor allem nach dem VfB-Sieg - Verteidiger Elmer in der 85. zum 1:2 - das werde ich nie vergessen. Damals trug man noch selbstgestrickte Schals, ein Trikot, das wars. Die Kuttenträger galten als Vorbilder und Neckar-Fils war die Sturmtruppe. Die Skinbewegung wurde erst später abgekupfert, die olivgrünen Bomberjacken wichen später gar dem einheitlichen Schwarz. Schwamm drüber. Eine Paralelle gibt es zur heutigen "Zweiten". Fürth und der "Glubb" waren damals schon dabei. Der BSV Schwenningen sorgte für einen weiteren schwäbischen Touch. Ach ja, ein Duell mit Baden gab es auch. Waldhof Mannheim hieß der Vertreter dieser edlen Gegend, auch das war ein "Hochrisikospiel, allerdings damals noch im alten Stadion im gleichnamigen Stadtteil. Welche Vereine habe ich noch vergessen, ... den FSV Frankfurt und den SV Darmstadt 98.

Zu den Zuschauerzahlen. Wenn man heute nach Tradition schreit, kann man auf jeden Fall nicht die Zuschauerzahlen meinen. Zumindest für den VfB war die zweite Lige ein einziger Reinfall. O.k., die Vorsaison endete nach dem Abstieg damals mit einem mehr als blamablen 11. Rang, aber zum ersten "echten" Heimspiel gegen den FSV Frankfurt kamen gerade mal achttausendfünfhundert Zuschauer. 8.500 Figuren im Neckarstadion für 72.000 Leute ! Heute undenkbar, zumindest bei Punktspielen. Solche Zuschauerzahlen waren keine Seltenheit, gegen Pirmasens, Fürth (!) und Bayreuth war es nicht gerade besser. Fast voll war gegen den TSV 1860 München mit 52.000, der Bestbesuch im Aufstiegsjahr. Sogar das letzte Heimspiel gegen Regensburg wollten nur 37.000 Zuschauer sehen, im Heimspiel davor gegen Bayern Hof und Röchling Völklingen kamen nur jeweils 16.000 Fans. Und das in der entscheidenen Phase der Saison! Hier wurden einfach komplette Tribünen geschlossen, wie in den damals unattraktiven Spielen der Europa League.

Die Anspielzeiten waren auch anderes. Der traditionelle Spieltag war damals Samstags um 15.00 Uhr. Allerdings gab es auch doch schon einige Freitagsspiele, Spielbeginn war dann um 19.00 Uhr. Am Gründonnerstag gegen Bayern Hof begann man um 20.15 Uhr, zwei englische Wochen gab es auch.

Ein besonderes "Zuckerle" war der zweite Weihnachtsfeiertag. Hier empfing der VfB die Stuttgarter Kickers um 15.00 Uhr. Man gewann mit 2:1 vor 37.000 Supporters, auch nicht gerade berauschend.

So das war mein kleiner Rückblick. Einiges habe ich nur angedeudet, schließlich werden bis heute bei großen militärischen Auseinandersetzungen die Akten unter Verschluß gehalten. Normalerweise garniere ich meine Bloggs immer mit Bildern. Damals brauchte man aber noch einen richtigen Foto, das Ding war sperrig und niemand machte sich darüber auch Gedanken. Ein "Selfie" war schlichtweg unmöglich und manche Dinge waren besser nur für Eingeweihte sichtbar und wichtig und nicht wie heute, für die ganze Welt.

Bild: Immerhin gibt es noch die Stadionzeitung vom letzten Auswärtsspiel des VfB in Trier. Damals benötigte man noch einen Punkt, der dann in einer wahren Zitterpartie mit einen 0:0 auch geholt wurde. Das war in der Saison 1976/77. Wie wird es 2016/17? Man wird sehen. Auf jeden Fall spielt man nicht mehr gegen Röchling, Bayern Hof und Co. Irgendwie aber war es schöner. Man stelle sich vor, 8.500 Zuschauer gegen Pirmasens, keine beheizten Toiletten, Stehplätze nur im Freien, kein Onlinekartenverkauf, keine Pizza oder Maultaschen, kein Abtasten und keine "Vorsänger". Ursprünglischer und echte gelebte Tradition!

Natürlich ist im Jahre 1977 noch viel mehr passiert. ACDC feierte mit dem Album "Let there be rock" einen neuen Welterfolg, Dschibuti wurde endlich unabhängig, RaMü ging zum Haare schneiden und St. Pauli wurde Erster, in der zweiten Liga Nord. Der VfL Wolfsburg stieg ab (!) und Bayer Leverkusen wurde Elfter. Weitere unterirdische Clubs in der Nordliga: Göttingen 05,Bonners SC, Wacker 04 Berlin, Schwarz-Weiss Essen, Westfalia Herne und Union Solingen. Längst vergessen und in den Untiefen des deutschen Fussballs versunken. Die Bundesliga hat uns damals noch nicht interessiert, erst ab Herbst 1977 dann. Da stiegen die Zuschauerzahlen rasant, Trainer Sundermann wurde zum "Wundermann" und der VfB etablierte sich auf Anhieb in der deutschen Eliteklasse. Lang, lang ist es her !

RaMü

 

 

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